Kurztext:
Die endgültige Eroberung und nachfolgende Besiedelung des Elb-Havel-Winkel durch deutsche Siedler erfolgte um die erste Jahrtausendwende und vollzog sich über einen längeren Zeitraum in mehreren Schritten. Von den neuen Machthaber gelenkt, fanden Menschen aus verschiedenen Teilen Deutschlands und aus dem niederländisch-belgischen Sprachraum hier ein neues Zuhause.......
Einblick in das mittelalterliche Leben im Elb-Havel-Winkel
Rigide Ständeordnung und freie Bürger
von Hans-Jürgen Wodtke
Die Bauern des Dorfes leisten ihre auferlegten Abgaben an den Grundherren. Fotokopie: WodtkeDie endgültige Eroberung des immer wieder von Elbhochwassern heimgesuchten Elb-Havel-Winkels durch deutsche Kolonisten erfolgte von etwa 950 bis 1200 in mehreren Etappen. Nach den Untersuchungen des Architekten und Heimatforschers Wolfram Bleis wurden in dieser Zeitspanne unter anderem auch einige Orte am Westufer der Havel von den deutschen Eroberern gegründet. Zu diesen zählen neben Schollene, Grütz, Göttlin, Milow, Bützer, Alt Rathenow auch Böhne. Über das Leben in diesem Haveldörfern zu jener Zeit gibt es dank des Böhner Kantors Meyer einige aufschlussreiche Aufzeichnungen. Allen aufgeführten Orten ist gemein, dass sie durch ihre unmittelbare Lage an der Havel über Jahrhunderte Grenzdörfer an einer immer wieder blutig umkämpften und damit unruhigen Grenze waren.
Kolonisten für das neu eroberte Gebiet
Für die Neugründung eines Ortes im neu eroberten Land benötigten die Kolonisatoren fähige und willige Menschen. Diese aus dem eigenen, bereits bestehenden, Herrschaftsbereich umzusiedeln war in der Zeit des Mittelalters durchaus üblich und hatte für die Herrschenden einige Vorteile. Kamen doch nun gottesfürchtige und damit leicht lenkbare Untertanen ins weitestgehend noch heidnische Land. Darüber hinaus konnten die Herrn diesen Untertanen auf Grund ihrer Rechtslosigkeit und Abhängigkeit nach Belieben Vorgaben und Auflagen machen und diese grundlos wieder ändern. Das Instrument für die Beherrschung Vieler durch nur Wenige nennt man die Ständeordnung. Ein System, das über Jahrhunderte, aus dem Mittelalter bis in die Neuzeit des 18. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus, erfolgreich und damit zum Wohle der Herrschenden angewendet wurde.
Die praktizierte Ständeordnung
Dazu muss man wissen, dass der zu der Zeit gesellschaftlich dominierende ländliche Bereich durch drei stark voneinander abgegrenzte Stände geprägt wurde. Der Fernsehjournalist Mirko Drotschmann beschreibt die mittelalterliche Situation in einem seiner Beiträge in der Reihe „MrWissen2Go“ sinngemäß wie folgt: „Zu dem obersten Stand, dem Klerus, zählten Bischöfe, Pfarrer Mönche und Nonnen. Den mittleren Stand bildeten der Adel, Fürsten, Grafen und die Ritter. Die Bauern und Handwerker gehörten zum untersten und dem vergleichsweise größten Stand.
Die einzelnen Stände unterschieden sich stark durch ihre Pflichten und Rechte. So gab der Klerus den Menschen vor, wie sie zu leben hatten, damit es ihnen nach dem Tode gut erging. Das war diesen damals sehr wichtig. In der Folge wurde das was der Klerus verkündet besonders für die unterste Schicht zum Gesetz ihres täglichen Handelns.
Der Adel hingegen schützte die Menschen seines Einflussbereiches vor feindlichen Übergriffen. Dazu stellte er bei kriegerischen Auseinandersetzungen Streitkräfte und zog selbst als Ritter für den Landesherren oder König in den Krieg. Für seine Dienste erhielt er von diesen Ländereien einschließlich allem lebenden und toten Inventar auf Lebenszeit als Lehen übergeben. Mit dieser Verpachtung wurden oft besondere Auflagen des Lehensnehmers gegenüber seinem Lehensgeber vereinbart und mit Treuegelübten beschworen.
Der unterste Stand hingegen hatte mit seiner Arbeit dafür zu sorgen, dass die Mitglieder der oberen beiden Gesellschaftsschichten ein gutes Leben führen konnten. Dazu arbeiteten die Bauern und ihre Familien als Unfreie oder Pächter auf dem Land, das der adlige Herr zum Lehen erhalten hatte.
Dennoch gab es zwischen diesen und dem sie nährenden Stand unüberwindbare Grenzen. So konnten die Menschen im dritten Stand, auch als Nährstand bezeichnet, selbst wenn sie fleißig und intelligent, ja sogar reich waren, nicht ihren Stand wechseln. Dagegen war ein Wechsel vom zweiten in den ersten Stand, so man sich entschied lebenslänglich der Kirche dienen zu wollen und ins Kloster zu gehen oder ein Pfarrer zu werden, gängige Praxis.
Der niedrigste, der bäuerliche Stand
Das bäuerliche Leben hingegen bestand aus permanenter Entbehrung und täglich schwerer Arbeit. Selbst die Kinder der Bauern waren davon nicht ausgeschlossen und mussten von frühen Kindesbeinen an für den kargen Lebensunterhalt der Familie mit beitragen. An eine Schulbildung, gar Schulpflicht, war auf dem Lande erst ab dem 18. Jahrhundert zu denken. Damit fehlte es den Bauernkindern an elementarster Bildung, womit ihnen jegliche Chancen zum Aufstieg in die nächst höheren Stände ohnehin versagt blieben.
Durch die Machtposition des Adels und Klerus als besitzende Klasse konnten diese von den landlosen Bauern verlangen was sie wollten. So waren dieser Bauer und seine Familie dem adligen Herren auch dahingehend untertan, dass sie ohne Zustimmung des Herrschers weder den Ort verlassen noch eine Person ihrer Wahl ehelichen durften. Sie galten zu jener Zeit ohnehin als vollkommen macht- und rechtlos gegenüber ihrem Herren und wurden durch nichts und niemanden geschützt. Denn das Land, auf dem die Bauern ihren Lebensunterhalt erarbeiteten, gehörte den adligen Herren oder der Kirche. Lehnte ein Bauer Forderungen der Herrschenden ab, dann wurden die Lebensbedingungen für ihn und seine Familie schnell lebensbedrohlich. Zumal man ihm das verpachtete Land und die Tiere, seine einzige Lebensgrundlage wegnehmen oder ihn zu Kerker oder gar zum Tod verurteilen konnte. Folglich ging es für diese bäuerlichen Familien damals nicht darum zu leben, sondern um überhaupt zu überleben.
Die Macht des Klärus
Darüber hinaus übte auch die Kirche auf die Menschen im niedrigsten Stand ihre große Macht aus. Den, der sich damals gegen die Vorgaben des Klerus auflehnte, dem wurden nach dem Tode Höllenqualen prophezeit oder drohte gar der Scheiterhaufen. Zu jener Zeit waren das für die einfachen Menschen fürchterliche Drohungen und Weissagungen, denen sie uneingeschränkt glaubten. Denn das Weltbild wurde noch nicht durch die Naturwissenschaften, sondern durch die Kirche vorgegeben. Und da sich die Menschen viele Dinge des täglichen Lebens nicht erklären konnten, vertrauten sie den gebildeten Kirchenleuten, die dann ihre Macht nur zu oft zu ihrem eigenen Wohle ausnutzten.
Schematische Darstellung der Ständegesellschaft. Quelle: Cornelsen Verlag GmbH, Berlin Die Ständegesellschaft, war sie auch noch so ungerecht, galt über Jahrhunderte als ein durchaus stabiles, wie auch starres System, welches das Zusammenleben der Menschen, besonders zum Vorteil der Herrschenden, festschrieb. Damit hatten diese an einer Veränderung der gesellschaftlichen Situation auch überhaupt kein Interesse.“
Darüber hinaus gab es in der Region merkliche Unterschiede zwischen den neuangesiedelten deutschen Bauern und den unterworfenen Wenden. Der Böhner Kantor Meyer schreibt hierzu in seinen vor etwa 150 Jahren verfassten Aufzeichnungen folgendes: „Man ließ die ortsansässigen Wenden wohnen, gönnte ihnen auch einen Teil des Ertrages der Scholle, die sie bebauten, aber nahm ihnen den Vollbesitz. Sie wurden [damit] erbuntertänig und tributpflichtig. Das heißt ihr Los war [es fortan] das Feld, was sie vormals als Eigentum besessen hatten, nunmehr als leibeigene Sklaven zu bebauen. Das war hart, aber Kriegesbrauch. Ferner: Da der Wende kein eigentliches Eigentum mehr hatte, [war er] auch kein freier Mann mehr. So durfte er auch kein Schwert führen, hatte kein Stimmrecht und war wehr- sowie rechtslos. […] Um ihm den letzten Rest seiner früheren Stammeseigentümlichkeiten zu nehmen, nötigte man ihn Bürger im Gottesreich zu werden, das Christentum anzunehmen.
Als ein ganz ausgezeichnetes Werkzeug, die Gemüter der Wenden hierfür wirklich zu gewinnen, erwies sich der Mönchsorden der Zisterzienser. […] denn [dieser] wirkten weniger durch Lehre als durch Erweisung von Liebestaten und Führsorge.“
Eine neue und offensichtlich geschickte Vorgehensweise, die anders als zuvor die versuchte Christianisierung mit brutaler Gewalt, schließlich Erfolge zeigte.
Flämische Umsiedler kommen ins Land
Um 1160, so Historiker Bleis, nahm Erzbischof Wichmann von Magdeburg (*1116 – †1192) französische und flämische Umsiedler, die durch Naturkatastrophen und anderes Ungemach ihre Heimat verloren hatten, gerne hier auf. Begünstigt wurden seine Aktivitäten durch gute Kontakte zu den Bischöfen in Utrecht, Lüttich, Cambrai, Tourmai und Arras. Die Ortsgründung von Kamern, Rehberg, Molkenberg, Wudicke, Marquede, Nitzahn und weitere Ansiedlungen im Elb-Havel-Winkel weisen auf damalige erfolgreiche Siedlungsaktivitäten hin.
Bei Meyer heißt es hierzu weiter „Und er gewährte ihnen für ihre Ansiedlung äußerst günstige Bedingungen. Gegen ganz geringen Zins und Dienst erhielten sie wüste Ländereien. Da blühte dann alsbald neues reges Leben auf. Sie entwässerten sumpfige Gegenden, dämmten Flüsse ein, rodeten Wald. Auf dem so gewonnenen Terrain erblühten stattliche Dörfer und Städte. […] Für ihre Bauten führten sie den bisher hier noch nicht gekannten Backsteinbau ein. [So waren] die Bewohner unserer Region damals teils Burgmann, teils ritterliche deutsche Herren, teils freie Kolonisten und teils erbuntertänige Wenden.“
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 19.April 2020 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow