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Kurztext: Die DDR-Führung verfolgte 1952/53 eine radikale Sozialismus-Politik, erhöhte Arbeitsnormen und verschärfte Repressionen. Das führte zu wachsendem Unmut, Fluchtbewegungen und Arbeitsniederlegungen. Trotz Warnungen ignorierte das Politbüro die Krise. Die Sowjets ordneten den „Neuen Kurs“ an, doch verspätete Rücknahmen und Versäumnisse führten am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand mit zahlreichen Opfern.
Die Vorgeschichte zum 17. Juni 1953
Wie der Volksaufstand noch hätte verhindert werden können
von Hans-Jürgen Wodtke
Politische und ökonomische Veränderungen 1952/53
In der zweiten Hälfte des Jahres 1952 und im ersten Jahresabschnitt 1953 kam es in der DDR zu, von der politischen Führung verordneten, weitreichenden politischen und ökonomischen Veränderungen, die in allen Schichten der Gesellschaft zu spüren waren. Zu dieser Zeit war der junge Staat noch nicht einmal vier Jahre alt und wurde im Frühsommer 1953 bereits an den Rand des existenziellen Daseins katapultiert. Viel wurde über diese Zeit bereits spekuliert, geschrieben und philosophiert, doch solange sich die Archive der westlichen Geheimdienste zu diesem Thema nicht öffnen, bleibt so manches zum wirklichen Ablauf bzw. der unmittelbaren Zeit vor dem 17. Juni 1953 noch im unklaren. Denn dass man von westlicher Seite Interesse an unstabilen Verhältnissen an der unmittelbaren Nahtstelle des Kalten Krieges hatte, kann wohl niemand ernsthaft leugnen. In seinem Buch „Kein Tag der Deutschen Einheit, 17. Juni 1953“ setzt sich der Publizist und Historiker Thomas Flemming intensiv mit dieser Zeitepoche auseinander und kommt dabei zu interessanten neuen bzw. weiterführenden Erkenntnissen besonders für die Zeit vor dem von breiten Teilen der DDR-Bevölkerung getragenen Aufstand im Juni 1953.
Im gesamten Gebiet des Kreises Rathenow und der angrenzenden Region kam es am 17.Juni 1953 zu spontanen Arbeitsniederlegungen, Protestmärschen und Gewalttaten. Einen Überblick zu wichtigen Ereignissen liefert die Broschüre "17.Juni 1953, Volksaufstand"
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Ursachen des Volksaufstands
Die eigentliche Ursache für die als Volksaufstand bezeichneten landesweiten blutigen Unruhen legten die DDR- Politiker um Ulbricht und Grotewohl mit der Festlegung auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 zum überstürzten Aufbau des Sozialismus in der DDR. Der Beschluss beinhaltete die Entwicklung der SED zur führenden Partei, eine Verschärfung des Kirchenkampfes, Enteignung und Verstaatlichung von privaten Unternehmen und Überführung in staatliche Betriebe, Verschärfung der bereits praktizierten Repressalien gegen größere landwirtschaftliche Betriebe sowie die Forcierung beim Zusammenschluss von selbstständigen Bauernwirtschaften zu LPGs. Darüber hinaus sollte der vorgesehene Aufbau der Schwerindustrie zu Lasten der Leichtindustrie und Konsumgüterwirtschaft vorangetrieben werden. Doch damit nicht genug, so wurden durch die damals politisch Verantwortlichen am 1. Juni 1953 die Arbeitsnormen für viele Bereiche der DDR-Wirtschaft signifikant erhöht. Besonders diese Festlegung und damit defacto verbundene Lohnkürzungen versetzten die Arbeiter in den betroffenen staatlichen Betrieben in Empörung und führten zu wachsendem Unmut in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung. Die Folge war die zunehmende Bereitschaft zur Arbeitsniederlegung in zahlreichen volkseigenen Betrieben. Im Ergebnis quittierte die Menschen in der DDR die rigorose und übereilte Umsetzung der Beschlüsse des II. Parteitages und damit verbundene Verschlechterung ihrer bisherigen Lebenssituation mit zunehmender Flucht über Westberlin in die BRD. So waren es allein im März 1953 mehr als 58.000, zumeist gut ausgebildete junge Menschen mit ihren Familien, die ihrer alte Heimat für immer den „Rücken zukehrten“.
Ignorierte Warnungen führten zur Moskauer Standpauke
Doch Trotz alarmierender Meldungen aus allen Teilen der DDR, ignorierte die Spitze des Politbüros beharrlich die sich häufenden Hiobsbotschaften aus dem Land und versuchte stattdessen das sich anbahnende Desaster als unvermeidliche Erscheinung “des verschärften Klassenkampfes“ abzutun.
In dieser für die DDR äußerst angespannten Situation, so schreibt Thomas Flemming, wurden am 3./4. Juni 1953 Ulbricht, Grotewohl und Politbüromitglied Oelßner vollkommen überraschend nach Moskau in den Kreml zitiert. Hier trafen sie auf Chruschtschow, den neuen starken Mann im Kreml sowie Geheimdienstchef Beria und Außenminister Molotow, die den drei Angereisten sogleich gehörig die Leviten lasen. Sie warfen den deutschen Genossen vor, dass deren aktuelle Politik von vorn bis hinten verfehlt und zudem kontraproduktiv zu der damals von der Sowjetunion angestrebten Deutschlandpolitik standen. Denn die Sowjets verfolgten zu dem Zeitpunkt eine bereits zuvor von Stalin angestoßenen Initiative zur Vereinigung beider deutscher Staaten zu einem bündnisfreien und politisch neutralen Staatsgebilde. Bei ihren Bemühungen störte sie dabei die Bildung einer sozialistischen DDR, die Vertreibung der Bauern von ihren Höfen, die Zwangsverstaatlichung der Privatwirtschaft, mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs und die ausufernde Fluchtbewegung breiter Teile der DDR-Bevölkerung.
Deshalb müsste, so die drei Sowjetpolitiker, sofort der eingeschlagene politische Weg in der DDR verlassen und energisch, bevor zu spät, dagegen gesteuert werden. Bei ihrer politischen Standpauke stützten sich die drei nicht nur auf Erkenntnisse ihres eigenen Nachrichtendienstes sondern bedienten sich auch frisch abgefangener umfangreicher Analysen des französischen Geheimdienstes zur damals aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in der DDR.
Am nächsten Tag überreichten die Sowjetführer der immer noch irritierten ostdeutschen Delegation eine Direktive für einen umfassenden neuen Kurs und verlangten, dass dieser sofort umzusetzen ist. Zu diesen Vorgaben gehörte auch die sofortige Rücknahme der Arbeitsnormerhöhung.
Anordnung eines „Neuen Kurses“
Noch aus Moskau veranlasste Ulbricht, im nun als „Neuen Kurs“ bezeichneten Vorgehen, die Rücknahme fast aller von ihm mitveranlassten Maßnahmen der vergangenen Monate. Auch die geplanten pompösen Feierlichkeiten zu Ulbrichts 60. Geburtstag am 30. Juni 1953 wurden abgeblasen. Die bislang im gesamten Land aktiv tätigen Parteimitglieder und Politfunktionäre, die zuvor mehr oder weniger begeistert für den schnellen und radikalen Weg der DDR zum Sozialismus gekämpft hatten, traf die offizielle Verkündung des „Neuen Kurses“ in der Presse und damit umfassende Kehrtwende am 11. Juni 1953 vollkommen unvorbereitet. In der Folge kam es in den nächsten Tagen vielfach auch nur zur halbherzigen sowie schleppenden und damit zu späten politischen Umkehr im Land. Die Rücknahme, der per 1. Juni 1953 verkündeten Normerhöhung, hatte man sogar vollkommen aus den Augen verloren. Besonders dieses Versäumnis sollte letztendlich für eine Initialzündung am 17. Juni 1953 mit umfassenden Streiks bis hin zum fast die gesamte DDR erfassenden Volksaufstand mit mehr als 55 Toten, hunderten Verletzten und tausenden Inhaftierten führen.
Auswirkungen in das Havelland
Auch bei uns in der Region kam es zu Demonstrationen und Ausschreitungen mit einem Toten und zahlreichen Verletzten. Neben Protestaktionen in Rathenow gab es auch Arbeitsniederlegungen in Premnitz und offenen Widerstandsaktionen gegen staatliche Funktionäre in einigen Dörfern der Region. Worüber noch zu berichten sein wird.
Quellen:
• Thomas Flemming, Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953, Berlin. 2003
• Wolfram Bleis, 17. Juni 1953 Volksaufstand, Rathenow 2013 , HabiTourist
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 17. Juni 2023 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow