Kurztext
Am 8. März 1945 erreichten meine Großmutter und meine Mutter nach einer wochenlangen Flucht aus Ostpreußen das Havelland. Seit dem 21. Januar 1945 hatten sie sich bei eisiger Kälte und unter ständiger Bedrohung durch die heranrückende Rote Armee über Hunderte Kilometer gerettet. Aúf dem Böhner Möthlowshof fanden sie schließlich vorübergehend Zuflucht.
Flucht vor der Roten Armee aus Ostpreußen nach Böhne
Der langer und beschwerliche Weg ins Havelland
von Hans-Jürgen Wodtke
Anfang März 1945 kamen meine Großmutter (48) und meine Mutter (20) nach einer mehrwöchigen Odyssee im Havelland an. Sie waren am 21. Januar 1945 gemeinsam mit drei weiteren Familienangehörigen und zwei aus Danzig evakuierten Mädchen (10 und 11) jenseits der Weichsel aufgebrochen, um sich vor den heranruckenden Soldaten der Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Damit teilten sie das Schicksal von mehr als zwei Millionen Menschen, die bis dahin zwischen Weichsel und ostpreußischer Grenze lebten und nun versuchten, vor der sich rasant westwärts schiebenden Front zu flüchten.
Nach oft mehrwöchiger beschwerlicher und gefährlichen Fahrt bei Eis und bitterer Kälte sowie Beschuss durch Tiefflieger gelangten Millionen Flüchtlinge und Vertrieben aus dem Osten diesseits der Oder an.
Evakuierung aus dem westpreußischen Sommerau
Als die russischen Einheiten am 21. Januar 1945 das etwa 10 Kilometer entfernte Deutsch-Eylau erreichten, kam endlich der Befehl zur Räumung ihres Heimatortes Sommerau. Bei Mittagstemperaturen von minus 21 °G verließ der Treck gegen Mittag bei strahlendem Sonnenschein und kniehoher Schneedecke den Ort. Alle Einwohner hofften, bald wie-er zurückkommen zu dürfen. Noch zu seht geisterte das Wunder von Ostpreußen in den Köpfen der Menschen. Damals, Im 1. Weltkrieg, hatten die deutschen Truppen die in Ostpreußen eingefallenen russischen Armeen nach aufopferungsvollen Kämpfen wieder zurückdrängen können. Doch dieses Mal war es anders. Die Rote Armee legte seit Beginn ihrer Offensive am 13. Januar 1945 täglich 40 Kilometer und mehr zurück. Da hatte die Wehrmacht nur wenig entgegenzusetzen, ganz zu schweigen, die Zivilisten.
Der beschwerliche Weg nach Westen
Diese quälten sich mit Handwagen, Kinderwagen, Fahrrädern oder zu Fuß durch die eisigen, verschneiten Straßen und Wege. Die Flüchtenden auf den mit Pferden bespannten Treckwagen, solange noch intakt, waren da wesentlich besser dran.
Doch nur zu oft blieben auch diese auf den vereisten und schneeverwehten Pisten stecken oder mussten den Kolonnen der Wehrmacht den Vorrang einräumen. Dann verloren die armen Menschen wertvolle Zeil, die ihnen dann oft fehlte, um noch vor der Sprengung über die Brücken der Flüsse zu kommen. Das schnelle Vordringen der Roten Armee ließ meinen Vorfahren für die weitere Flucht nur den Weg in Richtung Norden offen. Auf den ersten 30 Kilometern müssen ihnen die Panzerspitzen der Roten Armee dabei sehr nahegekommen sein. Dennoch ist es ihnen gelungen, vor der Sprengung der Nogatbrücke in Marienburg und der Weichselbrücke in Dirschau und Wochen später die Oderbrücken bei Stettin an das jeweils andere, rettende Ufer zu gelangen.
Extreme Kälte und hohe Verluste an Menschen und Zugtieren
Der Januar 1945 war mit drei Grad unter dem Monatsdurchschnitt ein extrem kalter Monat, der unglaublich viele Opfer bei Mensch und Tier forderte. Als der Treck in Waren/ Müritz aufgelöst wurde, zog nur noch ein Pferd den Wagen. Die anderen drei Pferde hatten die ungeheuren Anstrengungen der zurückliegenden Wochen auf der etwa 800 Kilometer langen Strecke nicht überstanden.
Meine Familie setzte mit der Bahn ihren Weg von Waren Richtung Süden fort. Rathenow war schon zu Beginn des Trecks als Ziel ausgewählt worden, um im in der Nähe gelegenen Röhner Ortsteil Möthlowshof vorübergehend ein neues Zuhause zu finden. Ausschlaggebend für die Wahl dieses neuen Aufenthaltsortes war, dass dort die damals einzigen Verwandten außerhalb Ostpreußens lebten - die Familie meines Cousins.
Verratene junge Generation
Tage nach ihrer Ankunft beging meine Mutter am 4. April 1945 ihren 21. Geburtstag. Mit 21 Jahren war sie bereits länger als ein Jahr Kriegerwitwe. Ihr Bruder wurde in Russland vermisst, und der Vater kämpfte zu diesem Zeitpunkt im Kessel von Pillau bei Königsberg. Genau einen Monat später, am 4. Mai 1945, besetzten in den späten Abendstunden die ersten sowjetischen Soldaten den Möthlowshof. Alle Anstrengungen, alle Opfer und Entbehrungen der letzten Wochen schienen nun umsonst gewesen zu sein.
• Hans-Jürgen Wodtke, „Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region
um Rathenow“, Teil 1 bis 3, Rathenower Heimatbund e.V.
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 29. März 2015 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow