Kurztext:
Im April 1945 hofften viele Menschen im Elb-Havel-Winkel auf die Amerikaner, doch die Rote Armee besetzte nach schweren Kämpfen schließlich die Region. In Panik vot den Sowjets flüchteten hunderttausende Soldaten und Zivilisten zur Elbe. Trotz Lebensgefahr gelang vielen die Überquerung. Jedoch zahlreiche Soldaten wie Heinz Küster gerieten nach ihrer Kapitulation bei den Amerikaner durch deren Vertragsbruch dennoch in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
Über die Elbe und wieder zurück
Kriegsgefangene von den Amerikanern an die Sowjets ausgeliefert
Von Hans-Jürgen Wodtke
Gesprengte Elbbrücken und schwindende Hoffnungen
Als im Verlauf des 12. Aprils 1945 sowohl die kombinierte Straßen- und Eisenbahnbrücke bei Tangermünde wie auch die Eisenbahnbrücke bei Hämerten über die Elbe von deutschen Pionieren gesprengt wurde, war die Bestürzung am Ostufer des Flusses bei den hier lebenden Menschen groß. Hatten diese nicht nur dort, sondern weit über den Elb-Havel-Winkel hinaus, bis dahin gehofft von den Amerikanern besetzt zu werden. Doch diese blieben auch in den folgenden Tagen am Westufer des Flusses stehen.
Wenige Stunden vor Kriegsende: deutsche Soldaten und Zivilisten ,die nach Westen flüchten wollen, unmittelbar hinterm Deich am Ostufer der Elbe bei Tangermünde. Sammlung Wodtke
Die deutschen Militärverbände der 12. Armee, welche sich zuvor einer amerikanischen Gefangennahme durch die Flucht über den Strom entzogen hatten, bewegten sich hingegen weiter Richtung Osten. Damit wurde eine aufkeimende Hoffnung genährt, dass der Elb-Havel-Winkel zukünftig als neutrales Gebiet eine Pufferzone zwischen den Sowjets und Amerikanern bilden könnte. So beschreibt es auch Ernst Rahtgens, Verwalter des Kluge‘schen Gutes in Böhne, in seinen Erinnerungen. Nachzulesen ist dieses in der Broschüre „Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region um Rathenow“, Teil 1.
Doch spätestens mit der rasant weiter auf Berlin und schließlich am 24. April 1945 auch auf Rathenow vorrückenden Roten Armee, platzten auch diese Träume.
Fluchtwelle zum Elbstrom
In der Folge brach eine unglaubliche Fluchtwelle der in Panik geratenen hier lebenden bzw. vorübergehend schutzsuchenden Menschen Richtung Elbe los. Neben Heerscharen von Zivilisten befanden sich auch umfangreiche Wehrmachtsverbände, die sich noch Richtung Osten gegen die angreifenden Verbände der Roten Armee verteidigten, auf dem Weg zum Elbestrom. In diesem Chaos mit tausenden verzweifelten und verängstigten Menschen erreichte die Gepeinigten dann die Mitteilung, dass die Amerikaner niemand offiziell über die Elbe ließen. Dieser Zustand änderte sich zumindest für die Militärangehörigen der Wehrmacht erst, als es der Armeeführung der 12. Armee am 4. Mai 1945 gelang eine Kapitulationsvereinbarung mit dem Stab des neunten amerikanischen Armeekommandos in Stendal zu vereinbaren.
Der offizielle Übergang von Zivilisten über den Fluss wurde von den Amerikanern jedoch ausdrücklich untersagt. Dennoch ist es hunderttausenden Zivilisten gelungen lebend das Hochwasser führende Naturhindernis Richtung Westen zu überwinden. Allerdings ist dieses nicht auf die spätere Einsicht der amerikanischen Militärführung unter General Moore, sondern auf die Verzweiflung und Todesangst der Betroffenen zurückzuführen. Doch müssen nach Berichten von Augenzeugen damals unglaublich viele Verängstigte ihr Leben in dem tückischen Fluss gelassen haben.
18-jähriger Fallschirmjäger Heinz Küster will über die Elbe
Zu den deutschen Soldaten, die bei Ferchland die Elbe überqueren wollten, gehörte der damals noch nicht einmal 18-jährige Fallschirmjäger Heinz Küster. In seiner bewegenden Autobiografie „Die Hölle zwischen Elbe und Oder“ schildert er seine Erlebnisse bei der Elbüberquerung. Zur Überwindung der Elbe und Flucht auf die amerikanisch besetzte Seite baute sich Küster und ein 64 Jahre alter Luftwaffensoldat aus Teilen eines Pferdewagens ein Floß. In seiner Autobiografie heißt es: „Wir schoben das Floß ins Wasser, unsere Kleiderbündel legten wir darauf. Mit einer Latte wollten wir das ganze steuern. Ich saß vorne, er hin. Er bekam Angst, wackelte und das Floß kippte um. Unsere Sachen schwammen weg ich stand im tiefen Wasser, konnte die Nase gerade noch hochhalten. [….] Das Floß schwamm weg, und wir retteten uns vollständig durchnässt ans Ufer. Die Elbe hatte gefährliches Hochwasser. An den Buhnen zogen reißende Strudel alles mit sich in die Tiefe. Die Elbe [….] war hier etwa 350 m breit. Ungefähr 250.000 bis 300.000 Soldaten und eine große Anzahl Flüchtlinge waren kilometerlang, zwischen Elbdeich und Elbe, auf den Wiesen. Die Anzahl von Pferden schätzte ich auf zwei bis drei Tausend. [….]
Mit zunehmender Uhrzeit nahm der Druck der Russen zu. Sie schossen wahllos mit Werfern, Feldgeschützen und Pack in die Menge. Es müssen auch Panzerkanonen mit großen Kalibern dabei gewesen sein, denn es flogen auch Pferde und Menschen durcheinander. Die Panik nahm zu. Schreie, Schreie, Schreie von Verletzten und zerrissenen Menschen und Tieren, es war die Hölle! Das Angstgeschrei der Pferde war fürchterlich! Tausende Menschen sind an dem Nachmittag und in der Nacht von der reisenden Elbe und den Strudeln mitgerissen worden. Ununterbrochen hörten wir Hilfeschreie und sahen dann hoch gestreckte Arme von denen, die schwimmend die Elbe überqueren wollten. Ich hatte es auch mit meinem Pferd vor, als ich aber den reißenden Fluss sah, verzichtete ich auf den Versuch. [….] Am Nachmittag, so gegen 16:00 Uhr, kam ein [deutsches] Schlauchboot von der amerikanischen Seite. Alles strömte ans Ufer, das Schlauchboot war [schnell] überladen. Aber keiner wollte auf dem Schlauch[bootrand] sitzen und die Ruder ergreifen. Meinen Luftwaffenkamerad nahm ich am den Kragen zog ihn auf das Boot. Ich sprang auf den Schlauch und nahm ein Ruder. Ein Oberfeldwebel mit gezogener Pistole brüllte, er hätte das Kommando über das Schlauchboot. Er machte uns mit stahlharter Gebärde, lautstark und angsteinflößend klar, wer seinen Anweisungen nicht bedingungslos folge, würde von ihm erbarmungslos erschossen werden! Das bezog sich auf die Rudertakte und betraf uns acht Ruderer. Wir waren überzeugt, dass er seine Drohung wahr gemacht hätte. [….] Für mich war dieses Boot die letzte Hoffnung. Ich ruderte wie ein Weltmeister! Die Russen beschossen uns mitten auf der Elbe, zielten aber 10 bis 20 Meter zu kurz. Wir kamen drüben gut an, unglaublich! 48 Mann waren im Boot, und acht Mann hatten gerudert. Das Wasser stand bis 5 cm unter der Oberkante des Schlauchbootes. Der Oberfeldwebel ruderte wieder zurück [aber niemand von uns wollte mit ihm noch einmal den Fluss überqueren.]“
Nach einer kalten Nacht auf der Westseite der Elbe gingen schließlich Küster und sein Kamerad am 9. Mai 1945 um 5.00 Uhr in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Täuschung durch die Amerikaner und Auslieferung an die Sowjets
Am Vormittag des 10. Mai verkündeten die Amis per Lautsprecher, wir würden mittags in Elbkähne eingeschifft und für sechs Wochen nach Magdeburg in Quarantäne kommen. Wir würden geimpft und dann mit Entlassungspapieren nach Hause entlassen werden. Allgemein kam große Freude auf, das waren doch Aussichten. Dafür wollten wir gerne alles weitere an Widrigkeiten in Kauf nehmen. Um 10.00 Uhr wurden wir aufgerufen, uns nach Anweisung zu formieren und Richtung Elbe in Marsch zu setzen. [….] Um 12:00 Uhr stiegen wir auf einem Bohlensteg zwei Meter hoch auf einen Elbkahn. Da gab es ein fürchterliches Erwachen! Als wir oben waren, sahen wir auf dem Ostufer der Elbe einen russischen Generalstab. Einige Generäle mit ihren Offizieren sowie Mannschaften standen dort. Diese nahmen deutsche Soldaten, die gerade einen Elbkahn entstiegen, in Empfang. Nun brach Panik aus, Kameraden wollten über die Kahnwand steigen und selbstmörderisch in die Elbe springen. Wir zogen sie zurück, selbst verzweifelt, redeten wir auf sie ein. Wir könnten uns doch nicht alle umbringen, es würde auch hier wieder einen Weg der Hoffnung geben. [….] Mittags, etwa 14:00 Uhr, entstiegen wir dem Elbkahn am Ostufer der Elbe! Ein Aufgebot russischer Generäle, Offiziere und Mannschaften empfing uns. Ein junger Russe, neben einem General stehend, spielte auf dem Akkordeon deutsche Schlager. Ab und zu auch deutsche Soldatenlieder. Russische Posten zeigten uns die Richtung, in die wir gehen sollten.
Heinz Küster und seine Kameraden befanden sich nun vollkommen ungewollt und von den Amerikanern arglistig getäuscht in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Die Historiker sprechen von etwa 10.000, manche sogar von 30.000, sich bei Tangermünde in amerikanische Kriegsgefangenschaft begebenen Soldaten der 9. und 12. Armee, die ein gleiches Schicksal erleiden mussten. Es handelte sich dabei um einen eklatanten Bruch der zwischen dem amerikanischen Armeekommando und dem Armeestab der 12. deutschen Armee ausgehandelten Kapitulationsvereinbarung. Doch was kümmerte die Welt zu jener Zeit das Schicksal von ein paar tausend deutschen Soldaten. Vielleicht ist das auch ein Grund, dass auch heute noch so wenig über diesen arglistigen Vertragsbruch am zweiten Tag nach dem Waffenstillstand berichtet wird.
Die Folgen der sowjetischen Kriegsgefangenschaft
Seit 1941 waren insgesamt etwa 3,3 Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. „Nach Zwangsarbeit, Hunger und Krankheit kehrten knapp zwei Millionen Gefangene aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück, die letzten im Januar 1956; alle anderen sind in den Lagern ums Leben gekommen oder gelten bis heute als verschollen“, wie das Deutsche Historische Museum auf www.dhm.de berichtet.
Quellen:
• Hans-Jürgen Wodtke, „Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region
um Rathenow“, Teil 1.bis 4, Rathenower Heimatbund e.V.
• Heinz Küster, „Die Hölle zwischen Elbe und Oder“, Verlag Siegfried Bublies
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 11. Mai 2022 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow