Grüße zum Advent
Der Rathenower Heimatbund e.V. wünscht seinen Unterstützern und seiner werten Kundschaft eine gesegnete Vorweihnachtszeit.
Kurztext: Am 17. Juni 1953 protestierten auch die Bauern in Vieritz gegen staatliche Enteignung und Repressalien. Der Protest eskalierte, führte zu Schlägereien und dann zu Verhaftungen sowie Zuchthausstrafen für die Anführer. Bauer Karl Michael wurde erst nach sieben Jahren Haft wieder entlassen. Im Ergebnis des Volksaufstandes änderte die DDR ihre Agrarpolitik, gewährte Bauern Freiräume und Kredite, um die drohende Nahrungsmittelknappheit zu vermeiden.
Die Ereignisse am 17. Juni 1953 in Vieritz
Ort im Elb-Havel-Dreieck erfährt die volle Härte der Staatsmacht
von Hans-Jürgen Wodtke
Nach Schätzungen gab es im Zusammenhang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 auf dem Gebiet der DDR mindestens 55 Tote, des weiteren hunderte Verletzte und fast 10.000 von der Staatsmacht Verhaftete. Zahlen, die verdeutlichen mit welcher Brutalität nicht nur von Seiten des DDR-Staates gegen seine protestierenden Bürger, sondern diese auch gegen die Obrigkeit vorgingen. Bei den vorstehenden Daten sind nicht alle „Schadensfälle“ enthalten, die im Zusammenhang mit der Verhaftung durch die Sowjets entstanden.
Ansicht der Vieritzer Gaststäte „Zum Jägerheim“. Hier begann am Abend des 17. Juni 1953 der Protestmarsch der Vieritzer Bürger mit einem letztendlich blutigen Ausgang. Foto: Günter Scheike, Heimatverein „Alter Krug“ Zossen e. V.
Protestbewegungen in Dörfern
Anders als vielfach vermutet, weil seltener publiziert, gab es aber nicht nur in den Städten und größeren Ortschaften Protestbewegungen, sondern kam es auch in zahlreichen Dörfern zu zum Teil blutigen Zusammenstößen zwischen der dortigen Dorfbevölkerung und staatstreuen Funktionären sowie politischen Repräsentanten. So auch im Bauerndorf Vieritz, dass zu der Zeit zum Kreis Havelberg gehörte. Hier waren zuvor Vertreter der Staatsmacht, Politagitatoren und Parteigenossen getreu der Beschlüsse der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 besonders rigide gegen die mittelständische Bauernschaft im Ort vorgegangen.
Dabei lieferten immer wieder nicht ordnungsgemäße Bedienung der staatlich vorgegebenen Soll-Abgaben an landwirtschaftlichen Produkten die Basis für umfangreiche Schikanen bis hin zur Enteignung und angedrohten Inhaftierung der Hofinhaber.
Beschlagnahme und Repressalien
Im Nachbarort Böhne kam es im März 1953 in einem gleichgelagerten Fall zur Devastierung, der staatlichen Enteignung, des außerhalb des Dorfes gelegenen Hermshof. Eine zu der Zeit des Öfteren praktizierten Vorgehensweise, bei der nicht nur den Hof, sondern auch das dazu gehörende tote und lebende Inventar konfisziert wurde. Die betroffenen Menschen standen dann nicht nur ohne ein „Dach über dem Kopf“ da, sondern besaßen auch kein Anrecht auf die jetzt für das Überleben wichtigen Lebensmittelkarten. Da man den Betroffenen, so wie im Mai 1953, in einem ähnlich gelagerten Fall in Vieritz, eine Arbeitsaufnahme in der örtlichen LPG von staatlicher Seite verweigerte, waren die Familie zunächst auf Almosen anderer Menschen angewiesen. Weitere Vieritzer Bauernfamilien standen im Frühsommer 1953 gleichfalls vor ihrer staatlich angedrohten Enteignung. Als Ersatzwohnraum hatte man für sie heruntergekommene, einst von der Roten Armee errichtete Baracken in einem inzwischen verlassenen Waldlager nahe der Vieritzer Bünsche vorgesehen. Diese auf der „staatlichen Abschussliste“ stehenden Bauern entschlossen sich, jedem weiteren Martyrium vorbeugend zur Flucht nach Westdeutschland. Doch das konnte damals nur unter größter Geheimhaltung und Täuschung der Staatsorgane gelingen. Denn hätte man sie bei den Fluchtvorbereitung respektive Flucht entdeckt, dann hätte das unweigerlich Gefängnisstrafe für die Menschen bedeutet. Weiteren ebenfalls in Vieritz unter intensiver staatlicher Kontrolle stehenden Bauern gelang es durch die Solidarität anderer ortsansässiger Landwirte die offenen staatlichen Sollforderungen noch rechtzeitig abzuleisten und damit vorerst weiteren Sanktionen zuvorzukommen. Die mit System fortwährend durchgeführten Repressalien unterschiedlichster Art, besonders gegen die mittelständische örtliche Bauernschaft, führte zur stetig wachsenden Unruhe und Ablehnung gegen alle staatstragenden und parteinahen Personen bis hin zum passiven Widerstand im Ort.
Der 17. Juni 1953 in Vieritz
In dieser aufgeheizten Stimmung erfuhren die Vieritzer von den ersten größeren Streiks im Land und beschlossen auf Initiative des im Ortsteil Kater lebenden Landwirtes Karl Michael am Abend des 17. Juni 1953 im Ort ebenfalls für eine bessere, wieder lebenswerte Zukunft zu demonstrieren. Als Mitorganisator konnte Bauer Michael im Laufe des Tages den örtlichen Fleischer und Landwirt Gustav Brost, den Bäcker Otto Schröder sowie Erich Zühlke, Betriebsleiter des Großwudicker Sägewerkes und 1. Sekretär der Ortsgruppe der SED in Vieritz gewinnen. Ihnen schloss sich der im Mai enteignete Landwirt Emil Engler und der auf der Bünsche lebende Kurt Hoffmann gerne an. Als diese, wie im Vorfeld vereinbart, sich am Abend gegen 20:30 Uhr in der von Familie Förster betriebenen Vieritzer Gaststätte „Zum Jägerheim“ trafen, hatten sich hier bereits zahlreiche weitere Vieritzer Bürger eingefunden, die sich anschließend zu einem Protestmarsch durch den Ort formierten. Ziel des Marsches war die Absetzung des VP-Helfers Weigert und des Ortsbürgermeisters Kirschnicki.
Protestmarsch entwickelt sich zum handfesten Krawall
Weigert, so erfuhren die Demonstranten befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer nahegelegenen anderen Gaststätte im Ort. Dort wurde er, so in der Urteilsverkündung, von Kurt Hoffmann gestellt, verprügelt und musste danach an der Spitze des Demonstrationszuges zur örtlichen Bürgermeisterei mitlaufen. Bürgermeister Kirschnicki verkündete den aufgebrachten Demonstranten, dass er, wie von ihm gefordert, zurücktreten wird. Damit waren die Hauptforderungen der Demonstration eigentlich erreicht. Jedoch kam es im Anschluss zum Aufeinandertreffen des Protestzuges mit vier in der MTS Böhne tätigen Politfunktionären. Diesen wurde eine maßgebliche Schuld an der damaligen Situation im Ort vorgeworfen. Schnell kam es in der Folge zwischen den Funktionären und einigen Demonstranten erst zu verbalen und danach zu heftigen, brutal geführten körperlichen Auseinandersetzungen. Die Schlägerei und Hetzjagd durch den Ort führte bei den unterlegenen Politagitatoren zu ausgeschlagenen Zähnen, Platzwunden und Gehirnerschütterung. Nur dank des Eingreifens einiger beherzt reagierender Vieritzer konnte noch weitaus Schlimmeres im letzten Augenblick verhindert werden.
Die Staatsmacht greift ein
Gegen 24:00 Uhr setzte der Havelberger Landrat Barm mit zwei Schutzpolizisten und vier mit MPi bewaffneten Sowjetsoldaten dem revolutionären Treiben in Vieritz ein jähes Ende. Noch in der Nacht kam es zur Verhaftung von Karl Michael, Otto Schröder, Erich Zülke, Gustav Brost und Emil Engler. Kurt Hoffmann konnte sich mehrere Tage und Nächte erfolgreich vor dem Zugriff der Staatsmacht in der Vieritzer und Zollchower Heide verstecken, bevor ihm die Flucht in den Westen gelang.
In einer nur wenige Tage nach dem 17, Juni 1953 vom Justizministerium der DDR erlassenen Anweisung hieß es: „Provokateure und Rädelsführer ausmachen, die schlimmsten festnehmen. Gegen Parteimitglieder vorgehen, die auf die Seite der Feinde übergegangen sind. […]“
Verurteilungen der Beteiligten
Für die Justizorgane war damals Karl Michael der Rädelsführer der Vieritzer „Revolte“, denn er hatte als erster zur Demonstration aufgerufen. Weitere „Beweise“ wurden durch Druck auf die anderen Mitangeklagten und zum Teil mit Hilfe abstruser Behauptungen konstruiert. Bereits am 14. Juli 1953 wurde er durch das Bezirksgericht Magdeburg zu 12 Jahren Zuchthaus mit anfänglich dreijähriger Einzelhaft verurteilt.
Erich Zielke, als einstiger 1. Sekretär der Ortsgruppe der SED in Vieritz und nun zum „Feinde übergegangen“, erhielt eine Zuchthausstrafe von sechs Jahren. Die übrigen Mitangeklagten mit Ausnahme von Gustav Brost, der nur zu einem Jahr Haft verurteilt wurde, erhielten vier Jahre Zuchthaus.
Insgesamt kam es in der DDR im Zusammenhang mit dem Volksaufstand zur Verurteilung von 46 Bauern und 15 Großbauern sowie auch 70 Unternehmern, die vor dem 17. Juni 1953 einen ähnlich schwierigen Stand in der DDR hatten. Deshalb ist es auch nicht korrekt, von einem Arbeiteraufstand und nicht vom Volksaufstand zu sprechen.
Politische Folgen und Kehrtwende
Relativ zeitnah nach dem 17. Juni 1953 erkannte die DDR-Führung als Ergebnis des „Neuen Kurses“, dass die weitere Drangsalierung der mittelständischen Bauernschaft zwangsläufig zu einer nicht mehr beherrschbaren Nahrungsmittelknappheit führen muss. Letztendlich auch auf Weisung aus Moskau kam es zu einer Kehrtwende in der bis in den Frühsommer 1953 praktizierten Politik. Jetzt billigte man den landwirtschaftlichen Betrieben nicht nur bisher unbekannte Freiräume ein, sondern unterstützte die selbstständigen Bauern mit Krediten, Zuwendung moderner Landtechnik, Düngemitteln und dergleichen. Auch versuchte die Politspitze mit Hilfe von vertrauenswürdigen Mittelsmännern zuvor in den Westen vertriebene Bauern wieder zur Rückkehr zu bewegen. Dabei wurde diesen nicht nur die Straffreiheit garantiert, sondern erhielten diese ihre Wirtschaft wieder zurück und alle gegen sie zuvor erhobenen staatlichen Anschuldigungen wurde verworfen. Von diesem Angebot wurde zu jener Zeit durchaus von zahlreichen „Republikflüchtlingen“ Gebrauch gemacht. So waren es allein im Haveldorf Böhne zwei Landwirte, die auch in der späteren Zeit unbehelligt auf ihrer Scholle weiterwirkten konnten.
Haftentlassung von Bauer Michael
Karl Michael wurde nach gut sieben Jahren Haft, mit zahlreichen Auflagen, die sein Leben stark einschränkten, als ein durch das Unrechtsurteil stark geprägter Mann, mit 55 Jahren, vorzeitig aus dem Zuchthaus in seinen Heimatort Vieritz entlassen.
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 21. Juni 2023 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow