Kurztext:
Ich bin ein Flüchtlingskind der zweiten Generation, geprägt von ostpreußischen Wurzeln und einer neuen Heimat im Havelland. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgewachsen, erlebte ich sowohl Zugehörigkeit als auch Ablehnung. Die Geschichten meiner Familie formten meinen Blick auf die Welt, machten mich offen, neugierig und dankbar für meine Herkunft
Flüchtling in 2. Generation
Mein Leben in unterschiedlichen Welten und Zeitepochen
von Hans- Jürgen Wodtke
Als ich den Titel „Vertriebener“ von Heinz-Rudolf Kunze, Geburtsjahr 1956, das erste Mal hörte, hatte ich sogleich mein eigenes Leben vor Augen. Auch ich bin ein Flüchtlingskind der zweiten Generation, bekennender Havelländer, aber auch stark geprägt durch eine ostpreußische Mutter und Großeltern und deren nie verblassende Erinnerungen an „das Land der dunklen Wälder und kristallinen Seen“.
Sommerau 1975, Hans-Jürgen und Mutter Waldtraud Wodtke bei ihrem ersten Besuch auf dem elterlichen Bauernhof in Ostpreußen. Sammlung Wodtke
Neubeginn nach 1946: Aufbau eines neuen Lebens
Zum Zeitpunkt meiner Geburt, im Jahre 1951 war es meiner Familie bereits gelungen, sich ein neues und für die damaligen Verhältnisse, modernes Heim und eine gut funktionierende Landwirtschaft zu schaffen. Überhaupt hatte sie seit ihrem Neuanfang im Jahre 1946 in den fünf Jahren erstaunliches erreicht.
Heute frage ich mich, was wohl damals ihr Antrieb gewesen sein mag, so rasch und erfolgreich Neues aufzubauen? Zurückblickend waren es wohl mehrere Faktoren, die sie angetrieben haben. Zum einem war es das sichere, wenn auch schmerzliche Wissen, dass es kein Zurück in die alte Heimat mehr gab. Da das so war, wollten sie nun in ihrer neuen Wahlheimat als fleißige und erfolgreiche Menschen wahrgenommen werden. Anders, als so manch anderer Neubauer, kannten sich meine Vorfahren in der Landwirtschaft blendend aus und konnten rasch überschüssige Nahrungsmittel produzieren. Diese dienten dann als Tauschwaren für die vielen noch so dringend benötigten Dinge auf dem Neubauernhof und dem persönlichen Bedarf der Hausgemeinschaft. Mit jeder Neuanschaffung wurde ihr Leben etwas einfacher und auch ein wenig angenehmer.
Weiterhin begünstigend war die Tatsache, dass auf dem zu Böhne gehörenden Wilhelminenhof nach dem Krieg überwiegend Flüchtlinge und Vertriebene lebten. Das gemeinsame Schicksal führte zu einer großen Verbundenheit und Solidarität der damals hier lebenden Menschen.
Integration – Erfolge und Grenzen
Aus heutiger Sicht könnte man somit vermuten, dass die Integration meiner Vorfahren relativ schnell und erfolgreich geglückt war. In der Tat, sie hatten wieder Fuß gefasst, doch die Gedanken waren immer noch in der alten Heimat verhaftet. Vor allem meine Großeltern trauerten der vergangenen Welt, dem verlorenen, gerade erst schuldenfrei gewordenen Bauernhof sowie den zahlreichen Freunden, Verwandten und Nachbarn nach. Wenn auch im Laufe der Jahre der Schmerz nachließ, gänzlich erloschen ist er nie. So war ihre verlorene Heimat bei uns zu Hause eigentlich immer präsent. Besonders bei dem Besuch von Verwandten oder nach Gesprächen mit Gleichgesinnten lebte die Erinnerung stets besonders intensiv auf.
Aufgewachsen in zwei Welten
Damit war auch für mich stets das von meinen Vorfahren Erlebte und die damit verbundene Gefühlswelt gegenwärtig. Im Ergebnis wuchs ich quasi in zwei unterschiedlichen Welten und Zeitepochen auf, die nicht hätten verschiedener sein können. Das hat mich wohl mehr geprägt, als ich es jäh für möglich gehalten hätte.
Trotz aller Bemühungen und Erfolge meiner Familie blieben sie und die meisten anderen Flüchtlinge und Vertriebenen noch bis in die 1960er Jahre für zahlreiche Alteingesessene Fremde, die inzwischen zwar weitestgehend akzeptiert, aber keinesfalls „geliebt“ wurden. Auch mir wurde das damals immer wieder schmerzlich bewusst, wenn mir Erwachsene ihre offene Ablehnung zeigten. Eine Zurückweisung, die sich auch nur allzu oft im Verhalten ihrer Kinder widerspiegelte.
Neben den eigenen negativen Erfahrungen spürte ich damals auch unbewusst, wie meine Mutter und die Großeltern unter dem immer wieder entgegengebrachten Misstrauen und der Nichtachtung durch Alteingesessene litten.
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat
Das alles tat unterschwellig weh und führte wohl auch dazu, dass ich mich besonders intensiv für das frühere Leben meiner Altvorderen zu interessieren begann und sogar den wunderschönen ostpreußischen Dialekt nachahmen konnte. Nur zu gerne hätte ich damals schon, in den 1960er Jahren, die in meiner Phantasie existierende Heimat meiner Ahnen besucht. Doch war dieser Wunsch zu der Zeit noch unendlich weit entfernt und erschien damit total unrealistisch. Mein Großvater umriss in Anbetracht der sowjetischen Erfolge bei der Weltraumfahrt damals die Situation so: „Ich glaube, die Russen lassen uns eher zum Mond fliegen, als jemals wieder unsere Heimat besuchen.“ Wie die Geschichte später zeigte, sollte er mit seinen Befürchtungen glücklicherweise nicht recht behalten.
Etwas später dann begriff ich, Nachfahre von Flüchtlingen und Vertrieben zu sein, kann nicht nur Fluch, sondern durchaus auch Segen bedeuten. Denn die ständige Auseinandersetzung mit meinen zwei Welten und Zeitepochen brachte mir immer neue und weiterführende Erkenntnisse. Diese schärften die Sinne für Dinge außerhalb des dörflichen Mikrokosmos, in dem sich die meisten Dorfbewohner befanden und halfen mir, so zeitig über den gern zitierten „Tellerrand“ zu blicken. Eine Tatsache, für die ich dem Schicksal sehr dankbar bin.
1975: Die erste Reise zur Heimat meinen Ahnen
Es sollte noch bis zum Jahre 1975 dauern, bis ich das erste Mal den einstigen Bauernhof meiner Ahnen besuchte. Obwohl noch nie dort gewesen, kam mir gleich alles unglaublich vertraut vor. Meine Großeltern hatten mich wohl in ihren endlosen Erzählungen so perfekt vorbereitet, dass ich sogleich das Gefühl hatte, hier bin ich zu Hause. Ein beeindruckendes und anderseits zutiefst beruhigendes Gefühl, denn ich fühlte, jetzt war ich angekommen, im Land meiner Altvorderen.
Heute weiß ich, dass ich in vielerlei Hinsicht das Schicksal, die Gefühlswelt und das Erlebte vieler anderer Flüchtlingskinder der 2. Generation teile. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied zwischen den meisten von ihnen und mir, denn mir wurde von meinen Vorfahren eine Unvoreingenommenheit gegenüber Polen, Russen und den anderen slawischen Völkern vorgelebt. Ein Glücksfall, der in den späteren Jahren dafür sorgte, dass ich viele schöne Erlebnisse im heutigen Polen, dem Land meiner Ahnen, erleben durfte, was mich dann neugierig auf die übrige fremde Welt mit ihren Menschen und deren Kulturen machte.
Dankbarkeit für die eigene Herkunft
Heute bin ich dankbar für meine Herkunft, denn sie hat mich klüger, neugierig und weltoffen gemacht. Und ich bin glücklich, in so einer Familie aufgewachsen zu sein.
Quellen:
• „Meine Heimat bleibt ein Traum“ aus Christ & Welt 22/2012
• Maxim Leo „Die Enkel der Vertriebenen“
• Dr. Joachim Süß, „Wie sich Flucht und Vertreibung auf die Kinder- und Enkelkindergeneration
auswirken“
• Hans-Jürgen Wodtke, „Beispielloses Flüchtlingsdrama nach Ende des II. Weltkriegs“ von in BRAWO
vom 23.08.2015
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 30. August 2015 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow
Vertriebener
Ich bin nicht aus Bochum und nicht aus Berlin,
Nicht aus Frankfurt und erst recht nicht aus Köln.
Ich bin nicht aus Hamburg (wie viele Leute glauben),
Und nicht aus München und auch nicht aus Mölln.
Ich wurde geboren in einer Baracke
Im Flüchtlingslager Espelkamp.
Ich wurde gezeugt an der Oder-Neiße-Grenze,
Ich hab nie kapiert, woher ich stamm.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich will keine Revanche, nur Glück.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Fester Wohnsitz Osnabrück.
Meine Mutter war so treu, dass mir schwindlig wird.
Mein Vater war bei der SS.
Ich heiß Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel,
Und Rudolf wie Rudolf Hess.
Alle gießen ihre Wurzeln, alle reden Dialekt.
Niemals Zeit gehabt, einen zu lernen.
Ich war immer unterwegs, ohne Grund und ohne Boden,
Mein Geschäft ist Überleben und Entfernen.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Schlesien war nie mein.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich werd überall begraben sein.
Ich hab in Lengerich gewohnt, in Hannover und Bad Grund.
Immer das Gefühl, dass man stört.
Ich bin auch ein Vertriebener, nirgendwo Gebliebener.
Zuhause ist, wo man mich hört.
Text: H. R. Kunze, Musik: H. R. Kunze/ H. Lürig