Grüße zum Advent
Der Rathenower Heimatbund e.V. wünscht seinen Unterstützern und seiner werten Kundschaft eine gesegnete Vorweihnachtszeit.
Kurztext:
Im April 1945 wurde der Elb-Havel-Winkel zum letzten großen Kriegsschauplatz auf deutschem Boden. Die Bevölkerung der Region lebte in der Hoffnung auf die Amerikaner und in Angst vor der Roten Armee. Viele flohen aus ihrem Heim, suchten Schutz in Nachbarorten oder versuchten vergeblich, die Elbe zu überqueren. Zeitzeugen berichten von unbeschreiblichem Chaos, Todesangst, blutigen Kämpfen und tiefen Spuren, die der Krieg in ihrer Heimat und ihren Seelen hinterließ.
Bleiben oder flüchten?
Der Elb-Havel-Winkel, letztes Schlachtfeld auf deutschem Boden
Von Hans-Jürgen Wodtke
Flucht einheimischer Zivilisten vor der heranrückenden Roten Armee Richtung Elbe. Sammlung Wodtke
Im April 1945 wurde die Kriegslage für die Menschen in der Region um Rathenow zunehmend bedrohlich. Nicht nur, dass seit einiger Zeit auch am Tage die alliierten Bomber nahezu unbehelligt am Himmel ihre Bahn Richtung Osten zogen, näherten sich vom Westen im Raum Tangermünde amerikanische Bodentruppen der Elbe. Deren Geschützdonner war bei Westwind in Rathenow bereits deutlich hörbar.
Am 12. April 1945 sprengten deutsche Pioniere der 12. Armee sowohl die kombinierte Straßen- und Eisenbahnbrücke bei Tangermünde als auch die Eisenbahnbrücke bei Hämerten über die Elbe, um die vorrückenden Amerikaner aufzuhalten. Durch den Wehrmachtsbericht im Radio erfuhren die Menschen, wenn auch oft mit Verzögerung, vom erfolgreichen Vordringen der Roten Armee in Richtung Westen. Am 21. April 1945 begann diese schließlich mit dem Beschuss des Zentrums der Reichshauptstadt.
Angst, Gerüchte und existenzielle Entscheidungen
Im Havelland brodelte spätestens jetzt die Gerüchteküche, die die Menschen zunehmend in Angst versetzte. Würden, was die meisten hofften, die Amerikaner den Elb-Havel-Winkel besetzen? Oder würde der von Goebbels heraufbeschworene „Mongolensturm“ das Land verwüsten, die Menschen versklaven oder gar ermorden ?
Für jeden Einwohner der Region stellte sich damals die unausweichliche Frage: „Was soll ich tun, um mich und meine Liebsten vor dem heraufziehenden Unglück zu schützen?“ In der angestammten Heimat bleiben, in einem der umliegenden Orte Schutz suchen oder versuchen, die Elbe zu überqueren? Egal, welche Entscheidung man traf – sie war stets riskant. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Menschen in ihrer Verzweiflung für sich und oft auch für ihre Angehörigen den Freitod wählten.
Fluchtwege aus Rathenow
Der damals elfjährige Rathenower Dieter Seeger berichtet in der Broschürenreihe „Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region um Rathenow“ über diese Zeit: „In Rathenow wurden Vorbereitungen getroffen, jedes Haus wie eine Festung zu verteidigen, wie Goebbels es forderte. Die Rathenower Garnison übte schon Wochen zuvor den Häuserkampf. [So] wurden Angriffe quer durch unsere Gärten der Nordsiedlung nach Süden vorgetragen.“
Weiter heißt es: „Im April begann der Ausbau von Verteidigungsanlagen. Selbst bei uns in der Siedlung wurden Panzersperren aus Baumstämmen errichtet. Alles deutete auf bevorstehende Kämpfe hin, deren Folgen wir fürchteten. In der Annahme, dass die `Russen´ vor, um und in Berlin aufgehalten werden, rechneten wir mit den Westmächten. Würden die Verteidigungskämpfe beginnen, kannten wir die US-amerikanische Reaktion: Panzerspitzen vor – Widerstand – Rückzug – Bombenteppich – wieder Panzer vor usw. Das würden wir nicht überleben, also flüchteten wir zwei bis drei Tage vor dem Feindalarm zunächst nach Ferchesar.“ Wenig später setzten sie ihre Flucht nach Stechow fort: „Hier rollte dann die Front über uns hinweg.“
Margarete Presler, geb. Gest, erlebte als Fünfjährige mit ihrer Mutter das Kriegsende am heutigen Dunckerplatz in Rathenow. Dieser Bereich am Hauptbahnhof war im Mai 1945 schwer umkämpft. Wehrmachtsverbände versuchten mehrfach, wenn auch erfolglos, die eingedrungenen Rotarmisten zurückzudrängen.
„Daraufhin machten wir uns zu Fuß, vorbei an aufgedunsenen Pferdekadavern, auf den Weg nach Gräningen. In einer Scheune auf dem Gutshof fanden wir schließlich vorübergehendes Obdach. Dort blieben wir einige Tage, bis wir den Rückmarsch nach Rathenow antreten konnten. Mit bangem Herzen näherten wir uns unseren Häusern am Bahnhofsvorplatz. Wir waren zutiefst erleichtert, dass unsere Häuser unversehrt waren. Doch beim Betreten der Wohnung folgte der Schock: Alle Inhalte aus den Schränken und Schubladen waren in die mit Wasser gefüllte Badewanne geschüttet. Viele Sachen waren dadurch unbrauchbar. Die Wanne hatten wir bereits zu Beginn der Kämpfe mit Wasser gefüllt, um Brandgefahr vorzubeugen. Nun rächte sich diese Vorsichtsmaßnahme bitter.“
Vergeblicher Versuch der Elbüberquerung
Für den damals fast zwanzigjährigen Rathenower Walter Woop stand fest, dass er sein Heil in der Flucht über die Elbe suchen wollte. Aufgrund einer schweren Verwundung am rechten Arm aus seiner Wehrmachtszeit kannte er aus Südrussland und Italien die Grausamkeiten deutscher Soldaten gegenüber Gefangenen und Zivilisten. Nun war zu befürchten, dass die Soldaten der Roten Armee nicht zimperlich mit der deutschen Zivilbevölkerung umgehen würden.
„Als ich endlich die Elbe zwischen Schönhausen und Klietz erreicht hatte, irrten bereits tausende Zivilisten und Militärangehörige am Ostufer umher. Die Amerikaner ließen niemanden über den Fluss und eröffneten unmissverständlich das Feuer auf jene, die es dennoch wagten. Den Strom bei Dunkelheit schwimmend zu überwinden, war mit meinem körperlichen Handicap unmöglich. Ein kleines Floß mit meinen Sachen vor mir herschieben war ebenfalls aussichtslos. Warum ließen die Amerikaner die aus Angst getriebenen Menschen nicht über den Fluss? Offenbar wollten sie rigoros verhindern, dass Tausende Richtung Westen fliehen.“
Völlig desillusioniert machte sich Woop auf den Rückweg nach Rathenow. Dort waren die Kämpfe inzwischen in vollem Ausmaß entbrannt. Er wurde erneut schwer verletzt, überlebte aber. Die nicht entfernten Splitter erinnerten ihn sein Leben lang an die zerstörerischen, blutigen Kämpfe in seiner Heimatstadt.
Eine Region auf der Flucht
Nicht nur aus Rathenow, sondern auch aus dem Umland trieb die Angst die Menschen in Richtung Westen. Auch Heinz Wollbrügge berichtet im Heft 5 der Broschürenreihe von seiner Fluchtgeschichte aus Jerchel in Richtung Elbe: „Vor dem Wagen waren zwei Pferde angespannt, die unterschiedlicher kaum sein konnten: ein großes junges Pferd, die Liese, und ein kleines altes Pony namens Moritz. Auf dem Wagen saßen Opa Paul sen., Mama Elsbeth und die drei Kinder Heinz, Walter und die sechsjährige Grete. Oma Juste, die Besitzerin des Hofes, fuhr mit dem Fahrrad hinterher. Ziel war zunächst Bergzow, der Heimatort von Mama Elsbeth, wo die Familie bei Verwandten übernachten wollte, um am nächsten Tag weiter nach Westen voranzukommen.“
Der Fluchtweg führte über Kuxwinkel, Brettin und Genthin nach Bergzow. Doch in der Nacht hatte die Rote Armee die Wollbrügge eingeholt: „Ich erinnere mich noch gut an das Schreien und Wehklagen der Frauen und Mädchen. Am nächsten Morgen waren die Pferde gestohlen. Nun standen wir da und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Sollten wir in Richtung Elbe? Die Russen, vor denen wir fliehen wollten, waren schon da. Also kehrten wir voller Angst und Zweifel nach Hause zurück.“
Quellen:
• Wodtke, Hans-Jürgen u.a. ,„Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im
Frieden in der Region um Rathenow“, Teil bis 5, Rathenower Heimatbund e.V. , 2006 bis 2025
Erschienen mit Textänderungen am 10. Mai 2025 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow